Vom Verlieren und Gefundensein

Als ich ein kleines Mädchen war, vielleicht 5 oder 6 Jahre alt, da nahm mich meine Mutter mit in die Kirche. Für uns beide war vieles da neu und fremd. Aber ich wusste eins: Irgendwann, kurz bevor der Gottesdienst zu Ende sein würde, dürfte ich Geld in den Klingelbeutel tun. Also machte ich mich zuHause auf die Suche: Ich kramte in unseren Schubladen, schaute unter meinem Bett und leuchtete mit der Taschenlampe unter die Couch. Ich pulte in den Ritzen unserer Küchenbank, leerte meine Taschen und klappte die Teppichkanten um. Schließlich sammelte ich so eine ganze Menge Pfennige zusammen. Ein paar Groschen gab mir meine Mutter dazu. Ich hatte Not, all die Münzen mit meinen zwei kleinen Händen zusammenzuhalten. Ich nahm sie in meiner Handtasche mit in die Kirche.

Ich erinnere mich genau. Wir saßen in der dritten oder vierten Reihe, nah am Mittelgang. Der Gottesdienst ging schon eine ganze Weile und ich konnte es kaum erwarten dass endlich der Beutel herumgereicht werden würde. Die Pfarrerin stand auf der Kanzel und redete. 

Ich sah aus dem Fenster. Ob es nicht klug wäre, die Münzen jetzt schon aus der Tasche zu holen? Um bereit zu sein, wenn der Beutel herumgereicht würde? Ich öffnete die Tasche, die auf meinem Schoß lag. Unbemerkt und ganz leise nahm ich alle Münzen in meine Hände, während um mich herum alte Leute andächtig den fremden Worten lauschten. Die Münzen fühlten sich so gut an in meinen Händen. Sie glänzten und rochen nach all den Händen, durch die sie schon gegangen waren. Nach Verbundenheit und Frei sein. Und sie machten dieses Geräusch, nur für mich, wenn dich meine Finger vorsichtig ein klein wenig bewegte. Klickediklack. 

Draußen strich der Wind durch die Blätter. Es war dieser eine Moment, in dem ich noch einmal aus dem Fenster sah. Und da passierte es: Die Münzen glitten mir aus den Händen. Alle. Sie fielen mit Padautz auf die Fliesen und kullerten zu allen Seiten: Unter Stühle und Füße, nach vorn, nach hinten und durch den Mittelgang.

Niemand sprach jetzt mehr. Alle schauten mich an. Ich fühlte mich miserabel. Ich schämte mich so sehr. Ich sah zu Boden in diesem schier endlosen Moment und es fühlte es sich so an, als ob alle um mich den Atem anhielten und mich ansagen. Ich konnte die verärgerten Blicke förmlich auf meiner Haut spüren. Bestimmt schüttelten jetzt alle ihre Köpfe und schnalzten mit der Zunge, dachte ich. Oder schlimmer noch: Spotteten über mich.

Ich bin längst kein Kind mehr. Und doch gibt es Tage, an denen ich mich wie damals fühle. An denen ich nicht weiß, ob ich Kind oder Pfennig bin:

Zu klein für diese Welt, nicht gut und nicht genug. Tage, an denen es morgens beim Aufstehen schon so scheint, als wäre meine Ration Glück für heute verbraucht: Das Ei fällt runter, meine Haut ist zum Reißen dünn, das Glas zerspringt und meine Nerven auch. Ich bin ungeduldig und laut mit meinen Kindern. Ich fühle mich gehetzt, gestresst und sehe sämtliche Baustellen meines Lebens übereinander – die von früher und von jetzt und auch noch die von später. 

Ich schaffe es nicht, noch diese eine Mail zu beantworten, die ich schon längst hätte beantworten sollen. Ich werde den vielen kritischen Blicken nicht gerecht und mir selbst und meinen Ansprüchen schon gar nicht. Und dann fahre ich mit dem Fahrrad zum nächsten Termin durch diese volle und laute Stadt und es plötzlich bricht es über mich herein. ich kann die Tränen nicht mehr halten. Dieses Erwachsensein hatte ich mir anders vorgestellt.

An so einem Tag passt das Leben nicht in meine zwei Hände: Das ist alles viel zu groß. Zu viel. Zu schwer: Alles, was ich mir mühsam zusammengesucht habe unter meinem Bett und zwischen zerwühlten Laken, was ich unter Teppichen wieder hervorgekehrt und in verstaubten Ecken meines Herzens verloren geglaubt hatte. Ich kann das nicht halten, es fällt durch meine Finger auf den Boden und kullert davon.

Was ich tue und denke und fühle, wieviel ich lieb habe – es reicht nicht, denke ich dann. Nicht für meine Kinder, nicht für den Job, nicht für mich selbst und für die ganze welt schon gar nicht.

Ich verliere ein Stück von mir selbst. Denn ich bin auch nur ein kleiner Groschen unter vielen: Ich taumel Und strauchel durch mein Leben und versuche, in der Welt anzukommen, am Tag mal anzuhalten, Pause zu machen, durchzuatmen. Weil ich mich danach sehne gefunden zu werden in diesem verloren sein. Und gehalten von einer Hand, die größer ist, als meine. 

Wie es damals in der Kirche weiterging? Ungefähr so:

Die letzten Groschen und Pfennige rollten über den Kirchenboden, noch ein Stück hierhin und dorthin und blieben nach einem Taumel vor der Kanzel liegen. Ich weiß bis heute nicht, was die Menschen in der Kirche über das kleine Mädchen gedacht haben, dem all ihre Groschen und Pfennige durch die Kirche gekullert sind. Vielleicht haben sie sich echauffiert. Aber vielleicht tue ich ihnen auch Unrecht. Vielleicht wussten sie selbst zu gut, wie es sich anfühlt, wenn einem entgleitet, was man vorher noch in den eigenen Händen zu halten geglaubt hat. 

Die Pfarrerin unterbrach ihre Predigt. Als ich mich traute, ihr in die Augen zu schauen, da sah ich, dass sie mich ansah und lächelte. Sie stieg von der Kanzel und kam in meine Richtung. Dann bückte sie sich und begann, Groschen um Groschen und Pfennig um Pfennig einzusammeln. Sie tat das ohne jede hast und mit aller Geduld und Sorgfalt, die eine solchen Aufgabe erfordert. Einen Moment lang sah ich sprachlos zu. Dann knieten auch meine Mutter und ich uns auf den Kirchenboden und suchten das Verlorene. Als keine Münze mehr zu sehen war, kam die Pfarrerin zu mir und legte alle Münzen zurück in meine Hände. Dann lächelte sie, nickte mir noch einmal zu, stiegt zurück auf ihre Kanzel und setzte ihre Predigt fort.

Ich bin sicher, dass Gott sich auskennt mit dem Verlieren und Verloren sein. Und genauso gut mit dem Finden. Jesus erzählt dazu diese Geschichte (Lukas 15, 8-10 Basisbibel):

»Oder stellt euch vor: Eine Frau besitzt zehn Silbermünzen. Wenn sie eine davon verliert: Wird sie da nicht eine Öllampe anzünden, das Haus fegen und in allen Ecken suchen, bis sie das Geldstück findet? Und wenn sie es gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: ›Freut euch mit mir! Ich habe die Silbermünze wiedergefunden, die ich verloren hatte.‹ Das sage ich euch: Genauso freuen sich die Engel Gottes über einen mit Schuld beladenen Menschen, der sein Leben ändert.«

Ich stelle mir vor, dass Kirche so ein Ort ist: Einer zum Verlieren und Gefunden sein. Ein Ort zum Scheitern. Einer, an dem mir das Leben aus meinen Händen gleiten darf. Und wir wir dann gemeinsam unsere Seelenteilchen wieder zusammensuchen.

Zu so einer Kirche, der CHURCH OF FUCKUPS hat der niederländische Künstler Dominee Kaj va der Plas übrigens einen wundervollen und großartigen Text geschrieben, den ihr hier sehnen könnt:

Church of fuck-ups – Gedicht

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