Von Rissen und wo sie zu finden sind

Nach meiner dritten Fehlgeburt brauchte ich eine Pause. Ich habe mich krank schreiben lassen und zuhause verkrochen – zumindest an den Vormittagen, wenn die Kinder in der Kita und in der Schule waren. Ich habe viel Zeit auf dem Sofa unter der Decke mit Netflix verbracht, zusammen mit meinem Schmerz.


Am meisten hat mir geholfen, etwas mit meinen Händen zu tun. Kreativ zu werden. Also habe ich eines unserer Bilder bearbeitet (ich hatte es vor Jahren einmal gemalt und mochte es nicht mehr so sehr, seitdem verändert es sich dauernd). 


Ich habe ein Bastelmesser genommen und lauter Risse dort hineingeschnitten. All meine Trauer und meiner Wut stecken darin. Meine Fragen, die ohne Antworten bleiben. Meine Tränen und mein Schmerz. Und dann habe ich angefangen, mit den Rissen zu spielen. Ich habe sie mit einer rauen, putzartigen Masse zugespachtelt, so, dass sie noch klar erkennbar waren. Ich habe sie lange und immer wieder angesehen. Irgendwann konnte ich auch das Drumherum wieder sehen und habe es bemalt. 


Ich wusste zu Beginn nicht, was für ein Bild das werden würde. Ich habe zuerst geschnitten und gerissen, und mich dann ernst auf den Weg gemacht, etwas in all dem zu sehen und diesen Spuren zu folgen.

 

 


Risse sind groß oder klein – 

und alles dazwischen, was es noch gibt. 

Dazwischen ist demnach auch 

ihre beschaffenheitliche Bezeichnung. 

Denn zu allermeist sind sie genau dort zu finden – 

zwischen zwei oder mehreren Teilen. 


Risse teilen Himmel und Welten,

Herzen und Meere. 

Es gibt verschiedenen Arten von Rissen: 

Manche führen sicher hindurch. 

Andere wiederum sind bodenlos wie ein Höllenschlund 

und schlucken noch das letzte Fünkchen Hoffnung, 

das ein gebrochenes Herz preisgibt. 


Achtung: Zuweilen wählt die Hoffnung selbst diesen Weg 

und weiß es. 

Sie hat die Kraft, sich in Zuversicht zu verwandeln 

und wie ein Phoenix aus Glut und Asche empor zu steigen.


Risse sind, was durch Zerrissenheit entstanden ist. 

Sie zeigen sich im Außen wie im Innen. 

Dort legen sie verborgenes frei und decken Ungeahntes auf. 

Ganze Schätze gar.


Risse haben von Natur aus etwas Raues, Verkrustetes. 

Aber immer auch etwas Glänzendes. 

Das scheint dort umso heller 

und legt sich in Beschädigtes 

wie Heil und Ganzsein.


Ich bin ein Riss. 

Mein Um-riss ist schwarz. 

Mein Seelenriss hingegen golden.


Ein Riss ist manchmal eine Decke, die in jede Tasche passt. 

Zum drunter verstecken. 

Zum Hineinkuscheln und Geborgensein.  

Zum Kleinseindürfen. 


Darum ist es ratsam, immer eine Taschenlampe 

und ein gutes Buch dabei zu haben. 

Und eine Tasse heißen Kakao auf Vorrat. 

All diese Dinge unterstützen die Wirkung von Rissdecken.


Risse findet man draußen in der Welt. 

In Felsen zum Beispiel: 

Selbst der härteste Stein reißt. 

Und Sand ist eigentlich goldener Rissestaub. 

Er kann vieles: 

Füße wärmen. 

Spuren zeigen. 

Kinder glücklich machen.


Risse sind auch im Himmel zu sehen: 

Wenn er aufreißt, dann kommt die Sonne. 

Kitzelt meine Nase und leuchtet in jede Ritze. 

Oder es kommt der Regen. 

Dann fallen Himmelsrisse. 

Wenn sie aufs Dach tropfen, beruhigt es die Seele, 

ihnen dabei zuzuhören und den Gedanken nachzuhängen. 

Wählen Sie dazu am besten einen Platz mit Fensterblick. 

Das weitet. 

Legen Sie sich zum Schutz 

die wärmende Rissedecke um die Schultern. 

Tipp: 

Jetzt bietet sich eine gute Gelegenheit, um das o.g. Lebensreisegepäck zu nutzen. 


Bittet die Seele während des Regens hingegen zum Tanz, 

dann empfiehlt es sich dringend, ihrer Einladung zu folgen. 

Am besten in Gummistiefeln und gelbem Regenhut. 

Nichts ist schöner, als bei Wind und Regengrau 

über den Asphalt zu spazieren und in Pfützen zu springen. 

Lachen Sie frei heraus, 

so laut und fröhlich es nur geht. 

Lachen Sie dem Regen ins Gesicht 

und freuen Sie sich darüber: 

Er ist die Vorbereitung für das große, leuchtende Bunt.